Die Lage in Minsk bleibt angespannt. Auslöser waren die Massenproteste nach Wahlmanipulationen bei der Präsidentschaftswahl am 9. August. Tausende Demonstrant*innen fordern Neuwahlen und ein Umlenken von Lukaschenkos politischen Kurs. Besonders junge Menschen sehnen sich nach Entwicklungspotential und blicken nach Westeuropa – Ältere fürchten die Rückkehr der 1990er Jahre.
Unser Interviewpartner ist heute Ewgenij Marchanka. Er wurde in Borisov nahe Minsk geboren. Im Alter von 6 Jahren zog er alleine mit seiner Mutter nach Deutschland, als die Lebensmittelkrise ihren Höhepunkt erreichte. Bis heute lebt der Rest seiner Familie in Weißrussland. Er besucht das Land immernoch etwa drei Mal im Jahr. Das Interviw haben Markus Schneider und Niklas Richter geführt. Beide sind im Landesvorstand der Jungen Europäischen Föderalisten NRW und im Bereich Programmatik tätig.
Markus Schneider: Hallo Ewgenij! ich bin froh, dass das Interview trotz deiner Klausurenphase so kurzfristig möglich war. Wie kam es dazu, dass du in so jungen Jahren mit deiner Mutter nach Deutschland gezogen bist?
Ewgenij Marchanka: Ich wurde in Borisov, nahe Minsk, geboren. Bis heute wohnt dort noch immer meine ganze Familie, darunter Cousins, Großeltern und so weiter. Seit 1994 ist Lukaschenko Präsident und baute seine Macht vor allem in den Jahren um 1998/1999 auf: Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gab es große Verwerfungen innerhalb des Landes. Besonders davon betroffen war die Versorgung mit Lebensmitteln. So war es üblich, im Schnitt zwei Stunden vor einem Supermarkt anzustehen, um das Nötigste, wie etwa Brot, einzukaufen (wenn es denn Welches gab). Da die Schlangen enorm lang waren und die Unsicherheit groß, entschloss sich meine Mutter aus Weißrussland auszuwandern.
Mehr zur Geschichte Weißrusslands vom MDRNiklas Richter: Wie hat sich die Lebensmittelsituation bis heute verändert? Gibt es immer noch schwerwiegende Probleme?
Ewgenij Marchanka: Im Anschluss verbesserte sich tatsächlich die allgemeine Situation unter Lukaschenko. Somit stabilisierte sich insbesondere die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern. In den letzten fünf Jahren gab es genug zu essen und die Wirtschaft war ebenfalls gut. Allerdings blieben technologische Entwicklungen hinterher. Die gute Versorgung fokussiert sich nur auf die lebensnotwendigen Erzeugnisse. Dies missfällt zunehmend der jungen Bevölkerung, die sich im Internet nach neuen Opportunitäten umschaut.
Markus Schneider: Wie sieht das Alltagsleben in Weißrussland aus? Wo und wie leben die Menschen. Gibt es große Unterschiede?
Ewgenij Marchanka: Der Großteil der Bevölkerung lebt in eher ärmlichen Unterkünften. Zudem ist es völlig normal, mit drei Generationen in einer Wohnung zu leben. Meistens ist die Miete sehr hoch und für die Kinder oder Großeltern ist es finanziell nicht möglich, eine eigene Behausung zu finden. Das gilt aber auch als selbstverständliches, da die Menschen grundsätzlich noch sehr traditionell sind.
Obwohl für die Miete das meiste Einkommen ausgegeben wird, sind Lebensmittel hingegen recht günstig, wie in Deutschland. Allerdings gilt dies nur für die wichtigsten Güter. Importgüter wie zum Beispiel „Kinderschokolade“ sind so teuer wie ein Wocheneinkauf. Trotz der hohen Preise nehmen die Produkte aus dem Ausland in den Supermärkten zu und werden immer beliebter.
Markus Schneider: Gibt es große Unterschiede in der Infrastruktur? Gibt es große Ballungszentren, die ggfs. eine wirtschaftliche oder politische Macht ausstrahlen?
“Der Druck auf die jüngere Generation ist enorm. Jeder ist gezwungen zu studieren, da er ansonsten keinen Beruf bekommt der finanziell die Miete und den Lebensunterhalt decken kann.”
Ewgenij Marchanka
Ewgenij Marchanka: Die Infrastruktur konzentriert sich fast ausschließlich auf Minsk. Minsk ist die Hauptstadt, wo Wirtschaft und Politik zusammenfließen. Die Stadt ist groß und auch sehr schön. Es wird schnell deutlich, dass hier der Großteil aller Steuergelder investiert wurde. Dagegen ist es auf dem Land sehr karg. Es gibt dort keine Straßen wie in Deutschland. Darüber hinaus leben dort mehrheitlich nur ältere Menschen in alten Hütten, die sich die Mieten in der Großstadt nicht leisten können. Daher lebt die jüngere Generation, insbesondere Studenten, in kleinsten und ärmlichsten Verhältnissen in Minsk. Die Studentenwohnheime sind absolut überfüllt und es ist ohne Kontakte oder ausländischer Finanzunterstützung oft sehr schwierig, einen Platz zu erhalten. Eine Kollegin von mir wohnt mit zwei weiteren Mitbewohnerinnen in nur einem Zimmer. Zugleich arbeitet sie 30 Stunden in der Woche und studiert Deutsch an der Universität. Der Druck auf die jüngere Generation ist enorm. Jeder ist gezwungen zu studieren, da er ansonsten keinen Beruf bekommt der finanziell die Miete und den Lebensunterhalt decken kann.
Markus Schneider: Gibt es wirtschaftliche Zusammenschlüsse von Weißrussland mit anderen Staaten?
Ewgenij Marchanka: Da Weißrussland früher ein Teil der Sowjetunion war, gab es zahlreiche Handels- und Transitabkommen. Bis heute sind diese noch teilweise in Kraft. Somit ist es unter anderem ohne Probleme möglich, von der weißrussischen Grenze nach Russland überzusetzen. Dies gilt für Händler sowie auch für Privatpersonen oder Touristen. Auch der Handel zwischen diesen Staaten ist sehr groß und von erheblicher Bedeutung. Somit sind auch die Verhältnisse zu Russland und Putin außerordentlich gut, da eine gewisse Abhängigkeit besteht. Allerdings investieren die Chinesen seit einigen Jahren dort im Land und kaufen zahlreiche Firmen auf, sodass diverse Manager ausgetauscht wurden. Dies missfällt der Bevölkerung nicht, da diese noch sehr patriotisch eingestellt ist.
Niklas Richter: Wie war der Umgang mit Corona während der Krise? Gab es einen Lockdown?
Ewgenij Marchanka: In Weißrussland gab es selbst keinen Lockdown. Viele haben die Nachrichten aus dem Ausland verfolgt. Im weißrussischen Fernsehen trat Lukaschenko einige Male persönlich auf und verkündete, dass niemand Angst vor Covid-19 haben soll. Einmal saß er sogar auf dem Traktor, trank einen Schluck Vodka und sagte in die Kamera, dass Arbeit und Vodka die beste Medizin gegen das Virus sei. Vermutlich liegt es daran, dass die meisten großen Betriebe Lukaschenko selbst gehören und er auch eine Panik aufgrund der fehlenden Ressourcen fürchtet. Die Bevölkerung dagegen fühlt sich von der Regierung im Stich gelassen. Im Nachhinein gab es kaum Covid-19 Fälle in Weißrussland, was aber auch an der Isolation des Landes lag.
Niklas Richter: Wie ist die politische Meinung im Land? Sind die Menschen eher pro oder contra Lukaschenko?
Ewgenij Marchanka: Die Meinung zu Lukaschenko geht weit auseinander. Insbesondere sind es die verschiedenen Altersgruppen, die das Land spalten. Die ältere Generation, dazu gehören meist die Großeltern oder konservative Erwachsene, sind mit Lukaschenko zufrieden. Dies liegt vor allem daran, dass in der Übergangszeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR wirtschaftliches Chaos vorherrschte. Es gab große Angst, Krisen, Währungsreform und Hunger. Mit der heutigen Situation ist daher die ältere Generation zufrieden, da diese jetzt wenigstens genug zu essen hat. Da es früher nicht so viele Medien gab, sind diese nur das Staatsfernsehen gewohnt und glauben an das Wahlergebnis von Lukaschenko. Besonders effektiv schürt Lukaschenko Ängste bei den Älteren, indem er bei einem Machtwechsel neue Hungersnöte und wirtschaftliches Chaos wie in den 1990ern androht.

By Kremlin.ru, CC BY 4.0
Allerdings ist das für die jüngeren Generation das komplette Gegenteil. Diese ärgern sich über die vertanen Chancen. Insbesondere sehnen diese sich nach freier Entfaltung, nach Karrierechancen und neuen Technologien. Die Mehrheit sieht das Internet als große Chance und informiert sich regelmäßig über neueste Nachrichten. Es reicht ihnen nicht, nur genug zu essen zu haben. Daher gucken diese mit Sehnsucht nach Europa, da es dort viele Möglichkeiten gibt und kaum Korruption. Die angestaute Wut kochte zuletzt hoch, als drei Tage vor den Wahlen das komplette Internet und Telefonnetz für drei Tage ins Ausland gesperrt wurde. Dies war der Grundstein der Proteste.
Niklas Richter: Wie sahen die Wahlen aus? Was wurde gefordert und was ist passiert?
Ewgenij Marchanka: Die Wahlen liefen nach außen wie immer ab. Allerdings gab es schon am Abend der Wahl von vielen Seiten Skepsis über die Methoden der Wahlauszählung. Außerdem verschwanden Stimmen und Wähler. Da die meisten Menschen Angst haben, gehen sie nicht zur Polizei oder sagten etwas. Dies allerdings änderte sich nach der Auszählung und Verkündung des Wahlergebnisses. Die Mehrheit forderte faire Wahlen bzw. Neuwahlen.
Statt dieser Forderung nachzugehen, nahm die Polizeigewalt erheblich zu. Viele meiner Freunde wurden blutig geschlagen und Bekannte von ihnen verschwanden sogar. Die Proteste sind trotz der ausufernden Staatsgewalt sehr friedlich. Viele von ihnen halten sich äußerst diszipliniert an die Vorschriften und übertreten nicht einmal einen Seitenstreifen an der Straße. Traurigerweise hindert dies die Polizei nicht daran, mit Gewalt die Demonstranten einzuschüchtern. Das schlimmste ist allerdings, dass es sogar funktioniert. Einige Freunde von mir trauen sich seitdem nicht mehr zu protestieren und gehen nicht mehr raus. Zudem kann dies die Familie schnell gefährden, da jeder im Staat abhängig von seinem Beruf ist (…).
Markus Schneider: Wie sieht es mit den Möglichkeiten aus, falls einige junge Menschen auswandern möchten? Greifen hier Kooperationen mit der EU?
Ewgenij Marchanka: Leider gibt es zurzeit kaum Möglichkeiten für die junge Generation, in die EU einzureisen. Das liegt nicht an einem Auswanderungsverbot seitens der weißrussischen Regierung, sondern an der EU selbst. Für ein Visum in die EU benötigt man mindestens 10.000 Euro Guthaben auf ein speziell gesichertes Konto. Somit ist dies für die meisten Menschen schon unmöglich. Darüber hinaus sind ein Grund und ein Ansprechpartner in der EU erforderlich, z.B. ein Familienmitglied oder eine feste Partnerschaft. Andersherum ist es ohne ein Visum und Kontrolle möglich, von der EU nach Weißrussland einzufliegen. Jedoch ist es Pflicht, die Einreise am Flughafen vorzunehmen.
Am 2. Oktober hat sich die EU auf einem Sondergipfel über Sanktionen gegenüber Belarus geeingt. Mehr dazu liest Du hier.
Markus Schneider: Was wünscht du dir für die Zukunft?
Ewgenij Marchanka: Ich wünsche mir für die Zukunft, dass die Staatsgewalt abnimmt. Viele Demonstranten wurden willkürlich verhaftet und sitzen im Gefängnis neben echten Verbrechern in einer großen Gemeinschaftszelle. Außerdem übt die Polizei die Befehle ebenfalls nur aus Angst aus. Diese Gewaltspirale muss durchbrochen werden! Dies ist nur möglich, wenn freie Neuwahlen stattfinden. Dazu würden uns Wahlbeobachter aus anderen, demokratischen Staaten helfen. Diese unterstützende Rolle könnte die EU übernehmen.
Wir bedanken uns für das Interview und für die Zeit. Das hat uns geholfen, ein ausführlicheres Bild zu der aktuellen Situation in Weißrussland zu erhalten.
Beitragsbild Quelle: shz.de