KV Münster

Bye bye, Britain? – Diagnosebesprechung beim Brexit-Stammtisch

Münsteraner sitzen um einen Tisch und hören einen Vortrag zum Brexit

März 2019, Oktober 2019 oder nun Januar 2020? Ganz sicher? Während das Brexit-Ausstiegsdatum flexibler scheint als je zuvor, hat unser unser Brexit-Stammtisch Ende Oktober stattgefunden wie geplant: am Dienstag um acht in der Brücke!

Ein bisschen wirkt die britische Regierung im Moment so wie der eine Partygast, der zu allen sagt, jetzt ist es aber wirklich spät, er müsse jetzt aber wirklich los, nur damit man ihn Stunden später in der Küche wiedertrifft. Man kommt gar nicht mehr mit, nachzuzählen, wie oft der Ausstiegstermin in den letzten Jahren schon ganz sicher feststand, nur um kurz vorher wieder verschoben zu werden, weil es über irgendeinen entscheidenden Punkt dann doch keine Einigung gab: Backstop, Zölle oder Hard Border? Dann doch einen Hard Brexit? Obwohl aus 10 Downing Street oft angedroht, traut man sich den Ausstieg ohne Ausstiegsverträge dann doch nicht, im Palace of Westminster. 

Höchste Zeit für eine Einordnung in 2 Wilmer Street! An einem Dienstag Ende Oktober, zwei Tage vor dem noch vor einigen Wochen ganz sicher finalen, kurz zuvor allerdings abermals – dieses Mal wirklich zum letzten Mal – verschobenen Ausstiegsdatum trafen wir uns zum Brexit-Stammtisch der JEF Münster in der Brücke. Hendrik und Jette ordneten in ihren Vortrag den Brexit zunächst geschichtlich ein und brachten anschließend Licht in die aktuellen Wirren.

„I want my money back!“ – Vorboten aus den 80er Jahren

Unsere beiden Experten aus der AG Inhalt machten zunächst deutlich, dass die EU-Skepsis auf der anderen Seite des Channels keinesfalls ein neues Phänomen ist, sondern sich über die letzten Jahrzehnte hinweg langsam aufgebaut und hochgeschaukelt hat. Eines der Anzeichen ist der so genannte Britenrabatt: 1984 ausgehandelt wurde der Nettobeitrag zur EU des Vereinigten Königreichs um 66% reduziert. Begründung: Die dortige Landwirtschaft sei deutlich kleiner als die von Deutschland oder Frankreich, weshalb die Briten weitaus weniger von den Agrarsubventionen profitierten. Bereits damals war jedoch klar, dass es Premierministerin Margaret Thatcher auch um Innenpolitik ging. Die Eiserne Lady trat hart auf und macht mit ihrem damaligen, inzwischen ikonischen Ausruf „I want my money back!“ vor allem eines deutlich: das Infragestellen von europäischer Solidarität und die <insert your country> first!-Mentalität ist keine originäre Entwicklung der letzten Jahre. Führte doch eben diese Mentalität zum 23. Januar 2013, als David Cameron das Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ausruft. Ironie der Geschichte: Cameron selbst ist ursprünglich gar kein Brexiteer, er will mit dem Referendum die EU-Gegner innerhalb der Tories ruhig stimmen und der EU-skeptischen UKIP entgegenkommen. Spätestens der Ausgang des Referendums am 23. Juni 2016 zeigt, dass er dieses Spiel, das natürlich für die Briten selbst gar keines war, verloren hatte: 51,9% stimmen nach einem hart und mit Lügen geführten Wahlkampf für Leave.

Cameron, May, Johnson – die drei Brexiteers?

Die Folge: Cameron tritt zurück, Theresa May wird Premierministerin. Auch sie war ursprünglich Anhängerin der Remain-Kampagne und muss den Brexit nun dennoch mit der EU verhandeln. Am 29. März 2017 macht die britische Regierung schließlich von Artikel 50 Gebrauch und stellt einen Austrittsantrag, die zweijährige Verhandlungsphase beginnt. Im Vortrag wird deutlich: Einer der härtesten Streitpunkte bleibt die Frage der Grenzkontrollen auf der irischen Insel. Der so genannte Backstop soll garantieren, dass es keine Grenzkontrollen gibt zwischen Irland und und dem zum UK gehörenden Nordirland. Die Region ist historisch Schauplatz von bewaffneten Konflikten gewesen, nun aber weitestgehend friedlich. Doch der Konflikt schwelt noch, befürchten Experten sowie viele Einheimische: Bei einer kontrollierten Grenze könnte die Gewalt wieder entfacht werden.    Mays Regierung kann keinen Deal bis Ende März 2019 erreichen, nach einer Verschiebung auf Ende Juni, einer nochmaligen Verschiebung auf Ende Oktober und abermaligen Streitigkeiten innerhalb der Regierung tritt May im Juni zurück, im Juli wird Boris Johnson Premierminister – der Mann, der bereits 2016 einer der prominentesten Figuren der Leave-Kampagne war. Besonders kurios: Die Briten müssen am 23. Mai trotz bereits beschlossenem Austritt noch einmal an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen. Die inzwischen neugegründete Brexit-Party um Nigel Farage erreicht mit einem aggressiven Wahlkampf 30 Prozent. 29 Abgeordnete verbrauchen seither Platz auf der Rängen des EU-Parlaments, melden sich ab und an mit wenig konstruktiven Beiträgen zu Wort, oder machen mit Aktionen auf sich aufmerksam, die man eher im Kindergarten als einem Parlament vermuten würde.   Status Quo: Nach Cameron und May schlürft nun der eigentliche Brexiteer seinen English Breakfast Tea in 10 Downing Street. Mit der Bewältigung des Brexit tut er sich jedoch nicht weniger schwer als seine beiden Vorgänger.

Brexit ahead! – Schicksalsjahr 2020

Jetzt also der 31. Januar 2020. Ganz sicher? Nachdem sich das Britische Unterhaus nicht bis zum anvisierten Ausstiegsdatum im Oktober auf den bislang ausgehandelten Deal einigen kann, beschließt die EU bis zum 31. Januar 2020 eine so genannte „Flextension“ – keine Methode, um Boris Johnsons Frisur zu retten, sondern vielmehr die Möglichkeit, den Brexit flexibel verlängern zu können. Am 28. Oktober scheiterte zunächst noch ein Antrag von Johnson auf Neuwahlen, inzwischen hat das Parlament den Weg für den Urnengang noch vor Weihnachten jedoch freigemacht – die Entwicklung bleibt so weiterhin unklar.

Während Boris Johnson in seinem Hobbykeller zur Entspannung Busse aus Weinkisten baut, hat die Ungewissheit für viele Briten ganz ernste, gesundheitsgefährdende Risiken: Eine neue Studie bestätigt, dass sich die Zahl der Depressionen im Vereinigten Königreich durch den anstehenden Brexit erhöht hat – Angstzustände, Aggressionen und Niedergeschlagenheit: Betroffene sind vor allem diejenigen, die für den Verbleib in der Union gestimmt haben.

Klar, dass beim Stammtisch viel Unverständnis über das Handeln der britischen Regierung zur spüren war. Klar bleibt aber auch – solange der Austritt noch nicht vollzogen ist, wollen wir JEFer den Briten nur eines über den Kanal zurufen: Keep calm and remain!

Text von: Joris Duffner