70 Jahre Schuman-Erklärung und ein Europatag, der anders als die vergangenen Jahre vonstattenging. Zwischen Feierlichkeiten und Skepsis. Zwischen Bedrohung und Aufbruch. Europa muss bereit sein für einen Wandel.
Der gestrige Europatag war unter zwei Gesichtspunkten ein besonderer. Einerseits jährte sich die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 zum siebzigsten Mal. Normalerweise ein triftiger Grund zum Feiern. Andererseits haben sich die Zeiten geändert, nicht nur wegen Corona. Dass wir den Europatag nicht wie gewohnt mit Veranstaltungen, Straßenständen oder Workshops mit den Bürger*innen unserer Städte begehen konnte, ist die eine Sache. Die andere ist, dass die Errungenschaften des von Schuman maßgeblich mit initiierten Europas wie Demokratie, Frieden und Grenzenlosigkeit, bedroht sind wie nie zuvor. Dafür müssen wir nicht nur nach Ungarn oder Polen schauen: Der Blick zur deutsch-französischen Grenze reicht derzeit aus.
Schumans historische Rede legte den Grundstein für das heutige Europa
Rückblende: Am 9. Mai 1950 formuliert der damalige französische Außenminister Robert Schuman in seiner historischen Rede:
„Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“
Diese Worte symbolisieren die Tragweite seines Vorschlags: Eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl als Grundlage für dauerhaften Frieden in Europa. Eine Zusammenlegung wirtschaftlicher Interessen, um den Lebensstandard aller zu erhöhen. Der Grundstein der heutigen Europäischen Union war gelegt. Was in den Jahrzehnten danach folgte, kann als weltweit einzigartig gewertet werden. Das Schaffen einer Gemeinschaft aus bis zu 28 Mitgliedstaaten, die auf den Grundwerten von Demokratie, Freiheit, Menschenrechten, Grenzenlosigkeit und Frieden gebaut ist. Eine Gemeinschaft, die vielen Menschen Europas neue Möglichkeiten eröffnet.
Errungenschaften sind bedroht: Wir müssen für unser Europa kämpfen!
In den Jahren sind Zweifel an den gemeinsamen Grundwerten laut geworden und Errungenschaften in den Hintergrund getreten. Der Brexit oder die Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn und Polen sind einige Indizien. Die Corona-Krise tut das übrige, um das brüchige Fundament der EU offen zu legen. Grenzschließungen als erste Reflexe der Krisenbekämpfung, Exportstopps für medizinisches Material und die Furcht vor einer zunehmenden europäischen Integration durch gemeinsame Anleihen sind einige Symptome.
All dies muss uns wachrütteln, uns darauf aufmerksam machen, dass wir uns jeden Tag aufs Neue dafür einsetzen müssen, die Errungenschaften zu verteidigen. Und nicht nur das: Wir müssen Europa weiterdenken, neue Lösungen finden. Europa demokratischer und solidarischer machen. Legitimität durch Partizipation erreichen. In diesem Sinne darf auch die geplante Konferenz zur Zukunft Europas keine erneute Zuhörübung sein. Es muss eine ergebnisoffene Plattform unter der repräsentativen Berücksichtigung aller europäischen Bürger*innen stattfinden, an deren Ende keine Angst und Scheu vor tiefgreifende Reformen stehen darf. Europa, die Europäische Union muss bereit sein für Veränderungen.
Und um zu Schumans Worten aus dem Mai 1950 zurückzukommen: Dieses Projekt kann nicht gewahrt werden, ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Wir alle sind gefragt: die Bürger*innen Europas ,aber insbesondere die Regierungvertreter*innen der Mitgliedstaaten sowie die Vertreter*innen der europäischen Institutionen. Einer neuer Kraftakt für Europa wird gebraucht!