You can find an English Version of this Article on the next page.
Seit Jahrzehnten kommt es im Konflikt um Bergkarabach im Kaukasus immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. In den letzten Wochen eskalierte der Konflikt: Seit Ende September herrscht Krieg.
Völkerrechtlich gehören die Region Bergkarabach und die umliegenden Provinzen zu Aserbaidschan, werden seit 1994 jedoch von Armenien besetzt. Die auf diesem Gebiet ausgerufene und von Armenien gestützte Republik Arzach ist international nicht anerkannt. Gegenwärtig rücken aserbaidschanische Truppen mit politischer Unterstützung der Türkei vor und greifen die Region samt ihrer Hauptstadt Stepanakert an.
Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen gibt es nach Medienberichten auf beiden Seiten zu beklagen. Nichtsdestotrotz rückt der Konflikt in der europäischen Öffentlichkeit in den Hintergrund. Über das Leiden der Zivilgesellschaft wird kaum berichtet.
Im Kontext unseres Discuss Europe Events am 17. November “Battle for Nagorno-Karabakh – Exchange and approaches for a peaceful solution” wollen wir auch den Menschen in Armenien, Aserbaidschan und Berg-Karabach eine Stimme geben und haben dafür mit Menschen aus den verschiedenen Gebieten über ihre aktuelle Situation gesprochen. Das heutige Gespräch wurde mit Veronika (24), die in der Region Kotayk im Zentrum von Armenien nahe Jerewan lebt, geführt.
Fragen von JEF NRW
Inwieweit bist du oder deine Familie vom Berg-Karabach-Konflikt betroffen?
Veronika: Glücklicherweise waren ich und meine Familie noch nicht von diesem Konflikt in physischer und wirtschaftlicher Hinsicht betroffen. Trotz der Tatsache, dass wir in der Republik Armenien leben, können wir nicht sicher sein, dass der Krieg, der auf dem Gebiet von Berg-Karabach stattfinden sollte, auch für uns nicht schädlich sein wird. Tatsache ist, dass die aserbaidschanische Seite im Oktober nicht nur das Gebiet von Berg-Karabach angegriffen hat, sondern auch Regionen Armeniens wie Syunik, Gegharkunik und Kotayk (wo ich mit meiner Familie lebe).
Wie wirkt sich der Krieg auf deinen Alltag in Bezug auf Beruf/Ausbildung, Soziales und Freizeit aus?
Der vielleicht schrecklichste Teil dieser ganzen Geschichte ist, dass meine Nation und ich mit diesem Konflikt fertig werden müssen.
Veronika: Dieser Krieg betrifft mich in psychischer Hinsicht total. Ich und hundert andere Bürger meines Landes können nicht wie gewohnt arbeiten, kommunizieren und entspannen. Mein Tag beginnt mit dem Lesen von Nachrichten und endet auf die gleiche Weise. Ich kann mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Viele meiner Bekannten sind jetzt als Freiwillige in Karabach, viele junge Männer aus meinem Ort, der rund 2000 Einwohner hat, kämpfen dort. Wir haben bereits zwei Opfer (22 und 50 Jahre alt) und mehr als zehn verwundete Männer, die jetzt in Krankenhäusern sind. Es gibt keine Neuigkeiten von meinem Nachbarn, der bereits seit zwei Wochen in Karabach ist. Die Situation ist schrecklich. Nach der Arbeit engagieren wir uns freiwillig und versuchen, Tausenden von Familien, die ihre Häuser verlassen und aus Karabach kommen mussten, mit Essen, Kleidung, Unterkünften usw. zu helfen.
Wie gehst du mit dem Konflikt um? Was denkst du darüber?
Veronika: Der vielleicht schrecklichste Teil dieser ganzen Geschichte ist, dass meine Nation und ich mit diesem Konflikt fertig werden müssen. Der Konflikt wird ein Teil unseres Alltags. Meine Gedanken sind jetzt nur bei unseren Soldaten. Ich möchte nur, dass sie alle zu ihren Familien zurückkehren.
Hast du Kontakte zu Menschen in Aserbaidschan? Wie kam es dazu? Hat sich seit dem letzten Ausbruch des Konflikts etwas daran geändert?
Veronika: Ich habe keine Kontakte in Aserbaidschan. Der letzte Ausbruch war im Juli dieses Jahres, aber ich denke, die Verwendung des Begriffs “Ausbruch” für den heutigen Krieg ist völlig falsch. Was heutzutage passiert, ist nicht nur ein „Ausbruch“, dies ist ein Krieg in seiner vollständigen Bedeutung.
Siehst du Möglichkeiten für eine friedliche Konfliktlösung? Wie würde sie wohl aussehen?
Ich möchte objektive Berichte europäischer Medien über die Situation an der Front sehen.
Ich hoffe, dass die Länder der Europäischen Union die Kriegsverbrechen der aserbaidschanischen Seite mit Unterstützung der Türkei verurteilen werden.
Veronika: Dieser Konflikt sollte nur auf friedliche Weise durch Verhandlungen gelöst werden. Die Situation „halb Frieden, halb Krieg“ hält seit rund 30 Jahren an. Jede Generation von Armeniern muss für das Grundrecht kämpfen, in Frieden und in ihren Häusern zu leben. Ich hoffe, dass der Konflikt diesmal durch die Friedensverhandlungen mit Aserbaidschan gelöst wird. Als zukünftige Mutter möchte ich nicht, dass meine Kinder die gleichen Schrecken sehen, die ich jetzt sehe.
Was erhoffst du dir von der Europäischen Union für eine Konfliktlösung?
Veronika: Ich möchte objektive Berichte europäischer Medien über die Situation an der Front sehen. Ich hoffe, dass die Länder der Europäischen Union die Kriegsverbrechen der aserbaidschanischen Seite mit Unterstützung der Türkei verurteilen werden, beispielsweise wenn sie Krankenhäuser, medizinische Zentren, Schulen und Kindergärten angreifen, die weit von der eigentlichen Front entfernt sind. Ich hoffe, dass einige Länder der Europäischen Union, die mit der Türkei und Aserbaidschan zu denselben militärischen und wirtschaftlichen Organisationen gehören, die Kriegsverbrechen dieser beiden Länder verurteilen und zugeben, dass sie Terroristen aus Syrien und Pakistan in unsere Region gebracht haben und dass jetzt Armenier auch gegen den Terrorismus kämpfen. Ich bin zuversichtlich, dass zumindest die EU-Länder infolge der oben genannten Maßnahmen mit dem Boykott und der Verhängung von Sanktionen gegen das Tandem Aserbaidschan und der Türkei beginnen und die Republik Berg-Karabach als unabhängiges Land anerkennen werden. Denn nur so kann die Bevölkerung von Berg-Karabach vor Aserbaidschans aggressiven rhetorischen und militärischen Angriffen geschützt werden.