Eine Analyse der von Putin angeführten Kriegsgründe. Von Felix Diekmann
Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit und so war auch die russische Invasion der Ukraine mit Lügen, Verzerrungen und Halbwahrheiten verbunden. Ziel der russischen Propaganda ist dabei, ein historisches Narrativ zu etablieren, dass ihrem Krieg Berechtigung gibt. Mit Erfolg – Laut einer repräsentativen Umfrage des Levada-Zentrum, das einzige unabhängige Meinungsforschungsinstitut Russlands, stehen 81 Prozent [Stand 11. April*] der Befragten hinter dem Krieg in der #Ukraine und dem russischen Vorgehen. Schauen wir uns die russischen Behauptungen einmal an:
1. Die Ukraine ist kein Land, sondern ein Teil Russlands.
In Putins Augen ist die Ukraine ein „Kleinrussland“, das seinem „Großrussland“ untersteht, und Ukrainisch ein bäuerlicher Dialekt des Russischen. Die ukrainische Identität wäre dagegen unnatürlich und erst von der Sowjetunion künstlich erschaffen worden. Daher hätte die Ukraine durch ihre Hinwendung zum Westen ihr Volk verraten, was streng bestraft werden müsse. Tatsächlich teilen die Ukraine und Russland eine lange Geschichte. Zum Beispiel führen sich beide Staaten auf den mittelalterlichen Kiewer Rus zurück und waren Bestandteil des zaristischen und des sowjetischen Imperiums. Allerdings besteht auch eine lange Tradition eigenständiger ukrainischer Geschichte, Kultur und Sprache. Allgemein lässt sich aus Geschichte aber kein Herrschaftsanspruch herleiten. Entscheidend ist das freie Willensbekenntnis der Menschen. Durch das Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Dezember 1991, bei dem 92,3% der Ukrainer für ihre Eigenstaatlichkeit stimmten, hat die Ukraine ein Willensbekenntnis gegeben, das sie aktuell durch ihren tapferen Widerstand erneuert.
2. In der Ukraine begeht eine faschistische Junta einen Völkermord an Russen.
Diese Behauptung ist besonders bizarr, weil sie so offenkundig falsch ist. Da die Ukraine wesentlich demokratischere Strukturen als Russland besitzt, haben russischsprachige Bürger hier sogar mehr Rechte, als sie es in der Diktatur unter Putin hätten. Auch verlief das Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen der Ukraine seit der Unabhängigkeit weitgehend friedlich, wogegen nationale Minderheiten und Migranten in Russland teilweise stark diskriminiert werden. Zwei echte Völkermorde hat dagegen die Sowjetunion in der Ukraine begangen. Im Holodomor von 1931 und 1932 führte die sowjetische Führung eine künstliche Hungersnot herbei, die Millionen Ukrainer tötete. 1944 wurden dann die Krimtataren zwangsdeportiert und zur Sklavenarbeit gezwungen, wobei ein großer Teil von ihnen umkam. Beide Völkermorde werden bis heute von Russland nicht offiziell anerkannt.
3. Die Osterweiterung der NATO ist ein aggressiver Akt.
Schon seit Jahren wird von russischer Seite behauptet, dass die Osterweiterung der NATO ein aggressiver Akt sei und zudem ein Versprechen brechen würde, dass der Westen Russland nach Ende des Kalten Krieges gegeben habe. Beides lässt sich kaum halten. Jeder souveräne Staat hat grundsätzlich das Recht, seine Bündnisse frei zu wählen, und dass die Länder Osteuropas Schutz vor einem russischen Überfall suchen, ist nach ihrer jahrzehntelangen Unterdrückung durch die Sowjetunion und den wiederholten Übergriffen des Putin-Russlands völlig nachvollziehbar. Dass es Putin friedlicher gestimmt hätte, ihnen diesen Schutz zu verwehren, ist dagegen fraglich. Wahrscheinlich hätte es ihn eher ermutigt. Ein russischer Angriff auf das Baltikum wäre dann im Bereich des Möglichen gewesen. Des Weiteren stellt die Osterweiterung auch keinen Wortbruch dar. Zu Beginn der 90er Jahre bestand im Westen noch kein Interesse an einer Osterweiterung, was auch gen Moskau kommuniziert worden ist. Zum Ende des Jahrzehnts änderte sich das, und zwar nicht, weil der Westen Russland isolieren wollte, sondern weil dies zur Stabilisierung Osteuropas nötig war, wo sonst neue Diktaturen und Bürgerkriege gedroht hätten. Ein bindendes Rechtsdokument, dass eine Osterweiterung ausschließt, hat es nie gegeben. Stattdessen hat Russland mehrere Verträge unterschrieben, die es verpflichten, die Souveränität der Ukraine zu achten, Grenzen nicht einseitig zu verschieben und Konflikte friedlich beizulegen.
Bereits diese kurze Analyse der von Putin angeführten Rechtfertigungen macht sehr deutlich, dass es sich dabei nur um Vorwände handelt. Die tatsächlichen Gründe für den Krieg werden darin zu finden sein, dass Putin wünscht, seine Macht zu erweitern und die Verbreitung der Demokratie zu stoppen. Eventuell ist er auch wie andere Diktatoren der Illusion verfallen, dass er eine besondere historische Mission habe. Auf jeden Fall gibt es aber nichts, was seinem Krieg Berechtigung verleihen könnte.
Felix Diekmann ist Historiker und promoviert an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zur Geschichte der deutschen Europapolitik.
*Der Tagesspiegel gibt über diese Analyse zu bedenken: “Die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, da es an Vergleichsparametern fehlt. Unabhängige Meinungsforschungsinstitute sind in Russland inzwischen Mangelware, das Levada-Zentrum gilt als das einzig verbliebene vom russischen Staat beziehungsweise staatlichen Investitionen unabhängige Institut. 2016 wurde das Zentrum von den russischen Behörden als „ausländischer Agent“ eingestuft.”