Maidan, Oktober 2017. Wo vor drei Jahren noch hunderttausende Ukrainer gegen ihre Regierung demonstriert hatten, formierte sich unsere kleine Delegation zum ersten offiziellen Gruppenfoto. Erst Stunden zuvor waren wir in Kiew gelandet, hatten eine abenteuerliche Taxi- bzw. Uberfahrt überstanden und gemeinsam mit unseren ukrainischen Austauschpartnern unsere erste ukrainische Mahlzeit genossen. Sechs Tage lagen nun vor uns, um das Land, seine Politik und seine Kultur näher kennenzulernen. Ein Reisebericht.
Innenpolitische Reformen in der Ukraine
Erste Station – die Deutsche Botschaft. Bei Kaffee und Keksen gab uns Herr Schmidmayr eine erste Einführung in die Innenpolitik der Ukraine. Die Reformen des Bildungs- und Gesundheitssystems, die Dezentralisierung und Antikorruptionsmaßnahmen sollten uns im Laufe unserer Reise immer wieder begegnen.
So auch bei unserem Besuch des Parlamentes (inklusive Architekturführung und Vier-Gänge-Menü im Abgeordnetenrestaurant) und dem anschließenden Treffen mit einem Abgeordneten aus der Opposition, der die Reformen natürlich als viel zu langsam und nicht weitreichend genug empfand.
Die Dezentralisierungsreform sieht vor, dass mehr Aufgaben von der lokalen Verwaltung übernommen werden und die Gemeinden dafür mehr Gelder bekommen. So soll auch die Korruption eingeschränkt werden. Oppositionelle jedoch kritisieren, dass der Präsident durch die Ernennung von Präfekten seine Macht in den einzelnen Regionen stärken möchte.
Frau Gabriele Baumann von der Konrad Adenauer Stiftung konnte uns am Donnerstagnachmittag viel über die Bildungs- und Gesundheitsreform erzählen. Gesundheitsversorgung war dabei bisher zwar de jure kostenlos, de facto hielt man jedoch an allerlei Stellen die Hand auf, bis Patienten zu einer medizinischen Behandlung kamen.
Der Freitagmorgen brachte uns einen Besuch bei Free Russia House – diese Organisation russischer Dissidenten veranstaltet unter anderem Filmabende und Vorträge zu Russisch-Ukrainischen Themen. Unser Ansprechpartner war außerdem sehr gut über die deutsche Politik – und die Nähe eines gewissen Altkanzlers zu Putin – informiert, und uns wurde plötzlich bewusst, dass derartige Entscheidungen im Ausland anders wahrgenommen werden als hierzulande.
Zivilgesellschaft in Kiew
Allerdings wird das Free Russia House hauptsächlich aus den USA finanziert und hat daher durchaus eine politische Agenda, die kritisch zu hinterfragen ist. Auslandsförderung ist bei vielen NGOs in der Ukraine der Fall und bei der Anti-Korruptions-Organisation Chesno zum Beispiel notwendig, um die Neutralität zu wahren. Wie uns Herr Sergej Sumlenny von der Heinrich Böll Stiftung erzählte, führt dies jedoch dazu, dass die meisten NGOs in der Ukraine, die nach dem Euromaidan wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, sich auf Dauer ohne Unterstützung nicht werden halten können, weil ihnen bisher eine nachhaltige Mitgliederfinanzierung fehlt.
Insgesamt ist die ukrainische NGO-Landschaft einer genaueren Betrachtung würdig. Im Laufe der Woche lernten wir mehrere Vertreter kennen. Beim Kiewer Dialog, zu dem wir von der Robert-Bosch-Stiftung eingeladen wurden, trafen wir vor allem engagierte Bürger aus den Regionen der Ukraine. Einer von ihnen, ein Stadtratsabgeordneter, erzählte uns von den Summen, die er zahlen musste, um überhaupt zur Wahl antreten zu dürfen, und von der noch viel größeren Summe (die er ablehnte), die ihm angeboten wurde, um an einer bestimmten Koalition mitzuwirken.
Begegnung mit ukrainischen Partnern
Ein anderes Ziel unserer Reise war es, JEF-interessierte Ukrainer bei der Gründung einer eigenen nationalen Sektion zu helfen. Dafür widmeten wir einen Workshop-Tag dem Austausch von Erfahrungen und der gemeinsamen Reflexion europäischer Werte aus der Innen- und Außenperspektive. Wir versuchten außerdem gemeinsam, einen Aktionsplan für die kommenden Monate zu entwickeln und entwarfen dabei Unterstützungsmodelle wie ein Twinning- oder Mentorenprogramm. Wir sind sehr gespannt auf die kommenden Monate und hoffen, den Kontakt zu erhalten und die JEF Ukraine bald offiziell als akkreditiertes Mitglied begrüßen zu dürfen.
Der beeindruckendste Moment unserer Begegnung mit den Ukrainern war der gemeinsame Filmabend, an dem wir die von den Ukrainern empfohlene Netflix-Dokumentation „Winter on Fire“ über die Maidanrevolution ansahen. Viele von ihnen hatten die Ereignisse selbst miterlebt und waren zum Teil sogar angeschossen wurden. Zwar hatten wir die Ereignisse 2014 alle im Fernsehen mitverfolgt, dieselben Bilder jetzt aber noch einmal anzusehen, nachdem wir selbst über den Maidan gelaufen waren, und gemeinsam mit Menschen, die damals dort waren, war jedoch sehr erschütternd.
Der Konflikt in der Ost-Ukraine
Seit der Revolution hat sich einiges in Kiew geändert – und auch der Konflikt in der Ost-Ukraine ist in den Straßen präsent, wenn man die Augen offenhält: Plakate, die zum Eintritt in die Freiwilligenarmeen werben, und Männer in ukrainischer Uniform sind zwar nicht allgegenwärtig, aber doch immer wieder sichtbar. Darüber hinaus sind an den Außenmauern des Michaelsklosters die Bilder der Gefallenen angebracht, viele von ihnen unserem Alter, davor Blumen und Kerzen zu ihrem Andenken.
Die Schwierigkeit, diesen Konflikt als Außenstehender sensibel zu behandeln und zu bewerten, ist uns im Kontakt mit den Ukrainern dabei immer wieder aufgefallen. Der Besuch der Special Monitoring Mission der OSCE – die sich auf die strikte Beobachtung beschränkt und selbst keine politischen Schlüsse zieht – war vor diesem Hintergrund eine interessante Erfahrung. Uns wurde von ihren Versuchen berichtet, jede Verletzung des im Minsker Abkommen verhandelten Waffenstillstands unvoreingenommen aufzuzeichnen – bis hin zur genauen Anzahl der Schüsse – und von den Versuchen der Konfliktparteien, Kameradrohnen mit Lasern zu blenden oder abzuschießen.
Fazit
Inzwischen sind einige Wochen vergangen und unsere Reisedelegation hat sich wieder in ganz Nordrhein-Westfalen verteilt. Die Ereignisse dieser intensiven Woche in Kiew wirken jedoch noch nach, wie wir selbst in Gesprächen mit Freunde und Familie immer wieder feststellen.
Während die Reise bereits in einigen Kreisverbänden vorgestellt wurde – und in anderen noch vorgestellt wird –, freuen wir uns auch über euer weiterreichendes Interesse und eure Nachfragen zu der Reise. Wendet euch dafür gerne an Sonja Ebbing unter sonja.ebbing@jef-nrw.de.
Die Fahrt in die Ukraine wird mit Bundesmitteln aus dem Kinder- und Jugendplan und von der Europa-Union Deutschland gefördert.