Stellungnahmen

Liebes Bundesverfassungsgericht, etwas mehr Vertrauen in Europa würde uns gerade jetzt guttun!

Wie es dazu kommen kann, dass das Bundesverfassungsgericht inmitten der größten europäischen Krise der letzten Dekaden ein (zu politisches) falsches Zeichen setzt und Schritte zu einem “Mehr” an Europa ausbremst – Und: Was wir daraus als JEF lernen können.

Mit seinem EZB-Urteil vom 5. Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), zum ersten Mal überhaupt eine Entscheidung eines EU-Organs als Kompetenzüberschreitung (eine “ultra-vires-Handlung”) eingestuft. 

Auch wenn das konkrete strittige Thema – das Programm der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (PSPP: Secondary Markets Public Sector Asset Purchase Programme) abstrakt klingen mag und wohl nicht bei allen JEFer*innen auf der europäischen Agenda weit oben steht, hat das Urteil eine weitreichende Ausstrahlungswirkung auf die politischen Forderungen der JEF und das Institutionengefüge zwischen Deutschland und der EU. 

Es steht nun nicht weniger im Raum als womöglich ein Vertragsverletzungsverfahren – ja genau, jene Möglichkeit der Direktklage durch die Kommission, die gegenüber Polen und Ungarn schon vor einigen Jahren eingeführt wurden. Ins Spiel gebracht wurde diese mögliche Option durch Niemand geringeres als Ursula von der Leyen selbst: 

Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst. (…) Wir analysieren derzeit das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Detail. Und wir prüfen mögliche nächste Schritte, welche auch die Option von Vertragsverletzungsverfahren umfassen könnten.”

Ursula von der Leyen

Wir wollen uns an dieser Stelle gar nicht so sehr mit der inhaltlichen Fragestellung des Urteils rund um die EZB befassen, sondern vielmehr einen Blick darauf werfen, wie das BVerfG die Entwicklung hin zu einer immer engeren Union gefährdet und die deutsche Überheblichkeit in Europa einmal mehr unter Beweis stellt.

Wie kann es denn überhaupt soweit kommen, dass ein deutsches Gericht dem Handeln von EU-Organen, namentlich der EZB und daneben noch dem höchsten Gerichtshof der EU – dem EuGH -, eine solche Absage erteilen konnte (“schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar”)? Gilt nicht eigentlich der Grundsatz EU-Recht (und damit auch Rechtsprechung) vor nationalem Recht? So sollen sowohl europäische Rechtsnormen, als auch europäische Rechtsprechung in der ganzen EU im Sinne ihrer bestmöglichen Wirkungskraft und Akzeptanz Anwendungsvorrang genießen – sie müssen schlichtweg befolgt und umgesetzt werden, auch wenn nationales Recht gegenläufig wäre.

Nicht aber mit dem Bundesverfassungsgericht.
Im Sinne einer “europarechtsfreundlichen” Auslegung des deutschen Grundgesetzes entwickelte es zwei Ausnahmen vom Grundsatz des Anwendungsvorrangs. Wenn man so will, behielt es sich also in zwei, bis dato noch nie vorgekommenen Fällen, vor, das letzte Wort zu haben: 

  • In der sog. Identitätskontrolle 
  • Bei der sog. Ultra-Vires-Kontrolle 

Beide rechtlichen Konstrukte gehen auf das Urteil des BVerfG zurück, das sich mit dem Vertrag von Lissabon, dem bislang wichtigsten Vertrag des europäischen Einigungsprozesses, von 2009 auseinandersetzte.  Um den unantastbaren Kern des deutschen Grundgesetzes, worunter das BVerfG die Menschenwürde und die Staatsstrukturprinzipien (Demokratieprinzip, Bundesstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit) fasst, auf ewig zu schützen, entwickelte das Gericht konkrete Grundsätze zur Zulässigkeit weiterer Integrationsmaßnahmen in Europa. Verletzt eine EU-Regelung eine dieser identitätsstiftenden Kategorien und ihrer Ausformungen, so kann das BVerfG im Rahmen der Identitätskontrolle die eigentlich vorrangig geltende Regelung am Maßstab des Grundgesetzes für unanwendbar erklären. 

Der zweite Kontrollvorbehalt, die Ultra-Vires-Kontrolle, soll prüfen, ob das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eingehalten wird. Danach darf die EU politisch und gesetzgeberisch nur dann tätig werden, wenn sie durch die Verträge und letztlich die “Herren der Verträge” (= Mitgliedstaaten) ausdrücklich hierzu ermächtigt wurde. Wird dieses Prinzip verletzt, überschreitet ein Unionsorgan also seine Kompetenzen, so kann ein solcher Akt Ultra Vires (“jenseits der Gewalten”) in Deutschland für unanwendbar erklärt werden. Ein solcher Kompetenzverstoß muss sich aber – in den Worten des BVerfG in einem Beschluss von 2010 – “auf Sachbereiche erstrecken, die zur (…) Identität der Mitgliedstaaten zählen oder besonders vom demokratisch[en] (…) Prozess in den Mitgliedstaaten abhängen” und auch muss diese Sachfrage zuvor schon dem EuGH vorgelegt worden sein, dem dabei sogar ein “Anspruch auf Fehlertoleranz” zugesprochen wird. 

Genau letzterer Fall ist beim EZB-Urteil angenommen worden: Nachdem der EuGH angefragt wurde und das PSPP-Programm für europarechtskonform hielt, befand das BverfG das Handeln der EZB dennoch für ultra vires. Die Ultra-Vires-Kontrolle wurde bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich inhaltlich detailliert ausgearbeitet und blieb – entsprechend des oben genannten Wortlauts sehr vage umschrieben. Durch das EZB-Urteil legte sich das BVerfG nun erstmals inhaltlich fest, wann es eine Handlung ultra vires sehen will: In der Geld- und Währungspolitik. 

Moment: In Geld- und Währungspolitik? Also in den Maßnahmen der EZB, jener Zentralbank, die als die unabhängigste der Welt gelten soll und die Souveränität dafür innehat, für die Stabilität des Euro zu sorgen? 

Wenn schon im Herzstück der europäischen Integration und im Kerngebiet vertraglich zugesicherter europäischer Souveränität schon ein Akt ultra vires vorliegen kann, wo dann noch? Können nun nicht theoretisch alle EU-Rechtsakte, die nur ein wenig Mut und Wille hin zu einem “Mehr” an Integration zeigen, politisch richtungsweisend sowie gewollt  und sogar durch den EuGH abgesegnet sind, einfach durch das BVerfG kassiert werden? 

Und welches Zeichen sendet dies an Länder wie Polen und Ungarn, gegen die der EuGH inzwischen schon mehrere Urteile gesprochen hat und deren Aufforderungen sie bis heute nicht nachgekommen sind? Kann sich nun jedes Land aussuchen dürfen, wann es dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts  – also: der Bindungswirkung von EuGH-Urteilen – Folge leistet und wann es den nationalen Interessen doch nicht passt? 

Das ist mehr als bedenklich und kann ganz und gar nicht im Sinne der immer fortwährenden Integration, für die wir als JEF einstehen, sein! Die Abweisung an ein “Mehr” an europäischer Integration kann eine nicht zu unterschätzende Sprengkraft für die europäische Zukunft und das Verhältnis zwischen Deutschland und der Union haben.

Die EZB steckt nämlich nun in der Zwickmühle: Sie muss dem Urteil des BVerfG gar nicht Folge leisten, da sie nicht unter dessen Jurisdiktion fällt. Folgt aber binnen drei Monaten nicht eine Begründung der Verhältnismäßigkeit des PSPP, so wäre Deutschland nach dem BVerfG verpflichtet, aus dem Programm auszusteigen. Die EZB, die einst unabhängigste Zentralbank der Welt, wurde also zum Spielball der Gerichte. 

Dies hätte gerade in der aktuellen Krise weitreichende Folgen: Nachdem man sich bislang nicht auf Vorstöße wie gemeinsam ausgegebene Anleihen einigen konnte, und stattdessen zusätzliche Investitionen der EZB in Höhe von 120 Milliarden Euro in die bereits laufenden Kaufprogramme sowie eine Beteiligung in Höhe von 750 Milliarden Euro beim Corona-Notprogramm PEPP ins Leben rief, wird deutlich, dass die dynamischen Mittel der EZB nicht mehr alleine das Mittel europäischer Reaktion auf finanzielle Krisen sein können. Wenn man sich aber auf Regierungschef-Ebene nicht auf solidarische, einheitliche Mittel einigen kann, so bleiben sie wohl oder übel als letztes Mittel übrig. Insofern ist der Französisch-Deutsche Vorschlag eines europäischen Wiederaufbaufonds im Umfang von 500 Milliarden Euro vom 18. Mai zwar begrüßenswert, jedoch ist es angesichts der dafür benötigten Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten sehr zweifelhaft, ob Länder wie Österreich, die Niederlande oder Schweden dem zustimmen werden. Dass sich EZB-Chefin Christine Lagarde für diesen Plan ausspricht, dass Frankreich Deutschland erst sehr spät zu einem solchen Schritt bewegen konnte, und dass die genannten Länder noch immer vehementen Widerspruch ausdrücken, zeigt was für einen Keil das EZB-Urteil in die solidarische Zusammenarbeit bei der Reaktion auf die finanziellen Auswirkungen der Krise geschlagen hat und wie es bei der Suche nach Zeichen Europäischer Solidarität für Verunsicherung sorgt. 

Dennoch können wir nur hoffen, dass sich alle europäischen Staats- und Regierungschefs sich auf den Vorschlag eines europäischen Wiederaufbaufonds als “stärkstes Zeichen europäischer Solidarität” möglichst bald einlassen werden. Sollte dies nicht geschehen, so wird umso mehr deutlich werden, dass eine Absage des BVerfG an ein “Mehr an Europa” inmitten der Diskussion über europäische (und mangelnde deutsche) Solidarität und inmitten der Krise um Reaktionen auf den völlig unklaren Ausgang der Pandemie zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt kam. Ausgerechnet Deutschland könnte so Öl in das Feuer derjenigen gegossen haben, die einerseits schon immer eine grundlegende Skepsis gegen die EU und ihre Institutionen pflegten und die andererseits die Rolle Deutschlands als Lehrmeister Europas satt haben. 

Das BVerfG hätte vielmehr in Krisenzeiten betonen müssen: Europa ist die Antwort und nicht das Problem! Es hat ein völlig falsches Signal gesendet, das auch angesichts des neuen französisch-deutschen Vorschlags eines europäischen Wiederaufbaufonds mehr für Verwirrung und Zerwürfnisse zwischen den Mitgliedstaaten, als für europäische Einheit und Solidarität sorgt. Dafür können wir als JEF nicht einstehen! Allen voran das BVerfG hätte dafür zu sorgen, dass aus einer europäischen Krise nicht eine Krise Europas wird. Mehr Vertrauen in Europa hat sich auch in Krisenzeiten immer bewährt und kann völlig neue Wege eröffnen. Merkel und Macron haben gestern hierfür einen Schritt in die richtige Richtung gewagt: Man kann in dieser Krise auch mit Mut und Vertrauen vorangehen. Beides kann in Europa Berge versetzen, wofür wir als JEFer*innen seit Jahren eintreten.

Text von: Markus Tichy & Jana Büsing