Von Simon Gutleben, kooptiertes Mitglied im Landesvorstand
Der letzte Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs (EUCO) befasste sich am 21. Oktober mit der Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Eine Lösung konnte nicht gefunden werden, aber es wurde durch Charles Michel die „konstruktive Herangehensweise gelobt“ [1]. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beschrieb die Konfliktlage als Teil einer größeren Frage über die Zukunft der Europäischen Union: „Wie stellen sich die einzelnen Mitglieder die Europäische Union vor? Ist es die ever closer union auf der einen Seite oder ist es mehr Nationalstaatlichkeit? Und das ist sicherlich nicht nur ein Thema zwischen Polen und der Europäischen Union, sondern das wird auch in anderen Mitgliedsstaaten diskutiert. Eigentlich ist die Konferenz zur Zukunft Europas ein guter Platz, um auch diese Fragen miteinander zu bereden.“ [2]
Diese Sichtweise, welche auch medial reflektiert wird, ist im Umgang mit Polen falsch. Der polnische Umbau des nationalen Justizsystems seit 2015 verstößt gegen elementare Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und bedeutet die faktische Abschaffung der Gewaltenteilung. Dies ist von zahlreichen Institutionen, wie der Venedig-Kommission des Europarates, bestätigt worden.
Die Rechtsstaatlichkeit und die Rechte der polnischen EU-Bürger*innen sind verfassungsmäßige Grundlage der Europäischen Union als Wertegemeinschaft. Dies gilt sowohl innerhalb Polens, wo die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet werden muss, als auch auf europäischer Ebene, wo der Vorrang des Europäischen Rechts gelten muss.
Diesen frontalen Angriff Polens auf die gemeinsame Basis der Europäischen Union als Streit um Zielvorstellungen zu beschreiben, ist gleich dem Bestreben, Feinden der Verfassung auf halbem Wege entgegenzukommen und zum Scheitern verurteilt. Eine solche Appeasement-Politik riskiert das gemeinsame Wertefundament der EU und langfristig die Zerstörung der Union. Die Rechtsstaatlichkeit muss eine rote Linie bleiben. Hierzu liegen auch aktuelle Beschlüsse der JEF Deutschland vor.
Zum Hintergrund:
Die Rechte aller Bürgerinnen und Bürger Polens, die gleichzeitig Bürgerinnen und Bürger der europäischen Union sind, sind durch die Charta der Grundrechte der europäischen Union verbrieft. Dies umfasst den Anspruch auf den Zugang zu unabhängigen und unparteiischen Gerichten nach Artikel 47. Die Europäische Union als Ganzes hat die Aufgabe, diese Rechte zu schützen.
Gleichzeitig verpflichtet der Vertrag über die Europäische-Union die Staaten in Artikel 2 auf die Achtung der Grundwerte der Europäischen Union, zu denen auch die Rechtsstaatlichkeit gehört. Beiden Dokumenten hat der polnische Staat aktiv zugestimmt und sich damit selbst verpflichtet.
Folgerichtig wurden die polnischen Justizreformen durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH/CJEU) für illegal erklärt und eine Wiederherstellung der rechtsstaatlichen Ordnung gefordert. Diesen Forderungen ist die polnische Regierung bisher nicht nachgekommen. Da die Unabhängigkeit der polnischen Justiz nicht mehr gewährleistet ist, ist der EuGH aber die letzte Garantie für die polnischen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, ihre Rechte durchzusetzen.
Die polnische Regierung reagierte auf diese Verurteilungen mit einem Antrag vor dem polnischen Verfassungsgericht, die Vereinbarkeit des Vorrangs von EU-Recht mit der polnischen Verfassung zu überprüfen. Das (teilweise bereits illegal besetzte und politisch beeinflusste) Verfassungsgericht urteilte am 7. Oktober, das zentrale Bestandteile des Europarechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar waren. Damit stellt Polen offen die rechtliche Ordnung der EU in Frage.
Auch gibt es gravierenden Unterschiede zwischen dem, ebenfalls kritisch zu betrachtenden, Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (zu den Anleihekäufen der EZB) und dem jetzigen Urteil in Polen, welche nicht gleichgesetzt werden sollten.
Titelbild: European Council via Flickr