Vor wenigen Tagen hatte ich Geburtstag. Als mir meine Mutter gratulierte, ging es nicht, wie in den letzten Jahren um Glück, Gesundheit oder Erfolg im Studium. Sie hat mir gewünscht, dass ich mich in meinem Leben nur darum sorgen muss, welche Vorlesung ich als nächstes besuche und nicht zu den Waffen greifen und mein Land verteidigen gehen muss. In dieser Situation finden sich nämlich leider unglaublich viele Menschen in der Ukraine aktuell wieder. Wäre meine Familie nicht aus der Ukraine nach Deutschland eingewandert, wäre ich jetzt auch an der Front. Mitten in Europa. Im Jahr 2022.
Der Beschuss von Babyn Jar zeigt Menschenverachtung von Diktator Putin
Dieser Gedanke ist so surreal, wie die Bilder und Videos die man aktuell aus der Ukraine sieht und die Geschichten die man von dort hört. Es sind Geschichten, die man sonst aus Filmen und Dokumentationen über den ersten oder zweiten Weltkrieg kennt. Dass es nach über 80 Jahren „Nie wieder Krieg“ Rufen in Europa, wieder zu einer solchen Situation gekommen ist, ist sowohl grausam als auch herzzerreißend. Und selbst diese Adjektive sind eine Untertreibung dessen, was Ukrainerinnen und Ukrainer, aktuell empfinden. Es ist kaum mit Worten zu beschreiben. Zeitzeugen des zweiten Weltkriegs, die sich in den 1940er Jahren vor Raketen und Bomben in Kiev verstecken mussten, müssen dies heute wieder tun. Damals kämpfte man Seite an Seite gegen den Nationalsozialismus und besiegte den Faschismus. Heute beschießt der wahnsinnige russische Diktator die Gedenkstätte in Babyn Jar. Dort wurden, während der NS-Besatzung, über 100.000 Menschen ermordet. Heute müssen sich die Menschen dort wieder mit Tod und Leid auseinandersetzen. Der Dämon im Kreml rechtfertigt seinen Angriffskrieg mit einem „Genozid an der russischen Bevölkerung innerhalb der Ukraine“. Dass er die Gewissenlosigkeit besitzt so etwas zu sagen und dann ein unabhängiges Land aus dem Norden, Süden und Osten mit Bodentruppen, Panzern und Luftangriffen angreift zeigt, dass der einzige Genozid der hier irgendwo stattfindet, wenn überhaupt von ihm ausgeht. Denn die Anzahl ziviler Opfer steigt mit jedem weiteren Tag dieses Krieges.
Mit Molotow-Cocktails für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie
Die Rücksichtslosigkeit und Brutalität des russischen Aggressors wird mit jeder Sekunde der fortschreitenden Invasion und der Begehung unzähliger Kriegsverbrechen immer deutlicher. Die Dinge die ein solcher Krieg mit sich bringt sind unbeschreiblich. Städte bereiten sich mit allem was sie haben auf die Verteidigung ihrer Heimat, ihrer Freiheit, ihrer Familien vor. Einfache Bürger stellen sich vor Panzer und bereiten Molotow Cocktails vor. Die Strom- und Lebensmittelversorgung wird knapp. Krankenhäuser, Waisenhäuser und ähnliche Einrichtungen müssen unter enormen Komplikationen evakuiert werden. Familien werden auseinandergerissen. Frauen, Kinder und Senioren werden versucht auf irgendeine Art und Weise über die Grenze in Sicherheit zu bringen. Oft müssen sie ihren gesamten Besitz zurücklassen und sind tagelang unterwegs unter extrem anstrengenden Bedingungen. Kriminelle plündern Häuser und Wohnungen oder überfallen hilflose Geflüchtete auf dem Weg. Männer müssen zurück und an die Front. Die Bereitschaft für die Heimat zu kämpfen ist groß. Sie verteidigen nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa, das Völkerrecht, die Demokratie, die Menschenrechte und jeden einzelnen von uns. Sie sind alle Helden.
Das ukrainische Volk wächst in der Krise über sich hinaus
So wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Mann der jahrelang als Komiker belächelt wurde übertrifft gerade alle Erwartungen als Oberbefehlshaber einer Armee in einem tobenden Krieg. Alle Ukrainer:innen wachsen aktuell über sich selbst hinaus. Der russische Aggressor hat erwartet als Befreier in der Ukraine mit Blumen begrüßt zu werden. Stattdessen werden sie mit Panzerabwehrraketen begrüßt. Die Ukrainer:innen sind zu allem bereit um ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Ein unglaublich starkes Volk. Das hat wahrscheinlich nun auch die gesamte Welt endgültig verstanden. Und das nach bereits zwei Revolutionen und acht Jahren Krieg im Donbass seit der Unabhängigkeit. Jahrelang hatte der Diktator im Kreml Zeit sich auf diese Invasion und jedes mögliche Szenario vorzubereiten. Jahrelang hatte er Zeit jede Opposition im eigenen Land im Keim zu ersticken. Das er zu allem bereit ist, hat er in den vergangenen Jahren immer deutlich gezeigt. Nicht nur anhand seiner Worte, sondern auch anhand seiner Taten. Auch die aktuellen Festnahmen Tausender Protestierender, darunter Kinder und Senioren, zeigt seine Schamlosigkeit. Die Soldaten, die er aktuell auf ukrainisches Territorium schickt, wussten möglicherweise nicht mal von der geplanten Invasion. Sie sind demoralisiert. Sowohl weil viele überhaupt kein Verständnis für die Invasion der Ukraine haben, als auch weil sie auf ein geschlossenes und widerstandsfähiges ukrainisches Volk treffen. Er hat sie in den Tod geschickt.
Das Momentum für die überfällige Weiterentwicklung unserer EU ist da
Dass der Westen ihn falsch eingeschätzt hat, ist nun ebenfalls offensichtlich. Die Debatte über die politischen Konsequenzen ist wichtig und richtig und wird auf allen Ebenen geführt werden. Denn dies ist ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte. Wir brauchen eine geschlossene Europäische Union mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik. Wir brauchen eine europäische Armee. Wir brauchen einen EU-Beitritt der Ukraine. Und vor allem brauchen wir, bei allen wichtigen und richtigen Debatten, tatsächliches Handeln und Reformen. Das man nicht zu lange warten darf, zeigt sich jetzt. Und jetzt geht es vor allem primär darum unbürokratische und schnelle Hilfe zu leisten. Die Hilfsbereitschaft und Solidarität ist riesig. Unzählige private Initiativen haben in wenigen Tagen Strukturen aufgebaut, die in unfassbaren Mengen Transporte mit humanitärer Hilfe an die Grenze und in die Ukraine schicken. Auch Transporte und Unterkünfte für Geflüchtete werden in Eiltempo organisiert. Die Menschen, die hier vor Ort in Sicherheit sind, wachsen ebenfalls über sich hinaus und helfen wo sie können. Eines von unzähligen Beispielen ist die UES Bereitschaftshilfe. Und auch in den sozialen Netzwerken, versuchen Millionen von Menschen im parallel laufenden Informationskrieg, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und auch die Regierungen, die EU und die NATO unterstützen mit Waffenlieferungen und finanzieller und humanitärer Hilfe. Durch diese Geschlossenheit und Hilfe sowohl von unten als auch von oben, kann tatsächlich effektiv geholfen werden.
Während ich dieses Statement schreibe, werden meine Verwandten aus Dnipro evakuiert. Es ist totales Chaos und absolute Panik. Es läuft nach dem Prinzip „Rette sich wer kann“. Die Männer können nicht raus. Menschen steigen ziellos in Züge und Busse. Die Ukraine hat über 40 Millionen Einwohner. Es geht gerade allen Familien dort so. Wir brauchen jetzt sofort alle Europäer:innen um diesen Wahnsinn zu stoppen. Denn nicht nur die Ukraine steht unter Beschuss, sondern mit ihr unser Europa mit all seinen Werten. Die liberale Demokratie muss siegen.
Слава Україні!